Äthiopien

Wenn man an Äthiopien denkt, hat man unweigerlich Bilder hungernder, bis auf die Knochen abgemagerter Kinder mit aufgeblähten Bäuchen in den Armen ihrer hilflosen Mütter vor Augen – Kinder, die zu schwach sind, sich die Fliegen aus dem Gesicht zu vertreiben. Diese Bilder gingen unzählige Male um die Welt und haben eine nie dagewesene Spenden- und Hilfsbereitschaft ausgelöst. In den letzten Jahrzehnten hat Äthiopien mehrere verheerende Dürreperioden und Hungersnöte erlitten.

Doch Äthiopien verdient Aufmerksamkeit auch unter ganz anderen Gesichtspunkten: Äthiopien gilt als die Wiege der Menschheit. Lucy, das älteste bisher gefundene menschliche Skelett, ist 3,2 Millionen Jahre alt und entstammt einer Region in der Danakilwüste im Nordosten Äthiopiens. Auch für die Christen hat Äthiopien eine herausragende historische Bedeutung: In Lalibela stehen die ältesten Kirchen der Welt, tief in den Fels gehauen und in das Erdreich gegraben. Und in Aksum soll sich die Bundeslade befinden, der Schrein, in dem Moses von Gott die zehn Gebote empfangen haben soll.

Zunächst einmal heißt es für uns jedoch wieder einen Grenzübergang zu überwinden. Die Ausreise aus dem Sudan verläuft problemlos und ohne Durchsuchung. Nach nur 20 Minuten ist alles erledigt.
Auf der äthiopischen Seite ist der Grenzposten kaum als solcher zu erkennen. Er besteht aus einer einzelnen, runden und strohgedeckten Lehmhütte, die genauso gut Teil des Dorfes sein könnte, das die Lehmhütte umgibt und voller geschäftigen Treibens ist. Die Straße ist über und über bevölkert mit Menschen, die ihren täglichen Geschäften nachgehen.
In der Hütte ist es angenehm kühl. Werbekalender diverser Brauereien zieren die Wände und den Schreibtisch des wortkargen, aber nicht unfreundlichen Beamten. Nach dem offiziell alkoholfreien Sudan ist es eine Wohltat, in einem Land wieder frei Bier kaufen zu können. Und in Äthiopien gibt es tatsächlich mehrere Brauereien, die sehr gutes Bier brauen.
Doch die Kalender verdienen noch unter einem ganz anderen Gesichtspunkt eine genauere Betrachtung, denn in Äthiopien schreibt man das Jahr 2000. Noch im Mai vergangenen Jahres wurde hier der Beginn des neuen Milleniums gefeiert. Die Geburt Christie, auf der unser gregorianischer Kalender beruht, wurde nachweislich falsch berechnet. Die Äthiopier waren diesbezüglich konsequent und haben ihren Kalender nach den neuen Erkenntnissen korrigiert, während die Zeitrechnung in der restlichen Welt weiterhin auf falschen Annahmen beruht.
Der Beamte nimmt die Pässe entgegen und beginnt bedächtig, in einem dicken, DIN-A4-großen Heft zu blättern. Nach ein paar Minuten legt er es zur Seite und holt ein weiteres Heft hervor. Die Prozedur wiederholt sich mehrmals, und auch dieselben Hefter nimmt er mehrmals in die Hand. Dann schließlich scheint er keinen Zweifel mehr zu haben, dass nichts vorliegt, was unserer Einreise entgegensprechen könnte. Er trägt unsere Namen in einen weiteren Hefter ein, drückt den Einreisestempel in unsere Pässe und erklärt, dass wir nun nur noch unser Carnet im nächsten, rund 35 Kilometer entfernten Ort abstempeln lassen müssen.
Dies geschieht dann auch erstaunlich unbürokratisch binnen weniger Minuten. Zum Schluss werden noch schnell ein paar Kopien angefertigt, die wir nicht einmal bezahlen müssen, und nach insgesamt nur einer guten halben Stunde sind alle Formalitäten erledigt. Es tut gut, dass es auch noch ohne Abzocke geht, und so fahren wir mit einem guten Gefühl weiter in das unbekannte Land hinein.

An Dörfer aus Lehmhütten konnten wir uns schon auf den letzten Kilometern bei der Ausreise aus dem Sudan gewöhnen. Dort führte durch sie allerdings eine geteerte Straße hindurch. Hier auf dem Weg von der Grenze nach Gonder, dem Camelot Afrikas, das seinen Namen den zahlreichen Burgen und Schlössern verdankt, die die ehemaligen britischen Kolonialherren hinterlassen haben, gibt es lediglich eine teils ruppige Schotterpiste, die viel weniger im Kontrast zur natürlichen Umgebung steht. Dörfer, Felder und Landschaft gehen eine natürliche, harmonische Symbiose ein. Noch stärker als im Sudan haben wir das Gefühl, nun wirklich in Afrika zu sein.

Äthiopien

Äthiopien

Die Menschen am Straßenrand winken uns fröhlich zu, und die Kinder rufen immerzu „You, you!“, um unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen. Wo immer wir anhalten werden wir sofort von ihnen umringt und neugierig beäugt.

Äthiopien

Die Frauen sind farbenprächtig gekleidet und tragen stolz ihre bunten Sonnenschirme. Ihr umwerfendes Lächeln ist so offenherzig, dass in unseren Gemütern die Sonne aufgeht. Diese einfachen, aber glücklichen Menschen strahlen von innen heraus in einer Weise, wie wir es noch nie erlebt haben. Gewaschen werden die farbenfrohen Kleider und Tücher auf traditionelle Weise im Fluss. Hier wird gebadet, hier holen die Frauen das Wasser zum Trinken und Kochen und tragen es in traditionellen Tonkrügen akrobatisch auf ihren Köpfen zurück in die Dörfer, hier wird das Vieh getränkt. Die Flüsse sind die Dreh- und Angelpunkte des hiesigen Lebens.

Äthiopien

Dennoch ist die Landschaft erstaunlich grün auch dort, wo die nächsten Flüsse weit entfernt sind, und wo sie sich zum äthiopischen Hochland aufschwingt. Das Hochland im Norden nimmt ein Drittel der äthiopischen Gesamtfläche ein und ragt bis über 4.000 Meter auf. Der Ras Dashen ist mit rund 4.500 Metern der höchste Berg Äthiopiens und der vierthöchste Berg Afrikas. Er liegt im Sämen-Nationalpark, der vom Großen Afrikanischen Grabenbruch durchzogen wird. Die entstandenen Gebirge und das gebietsweise sehr fruchtbare Land haben Äthiopien den Beinamen „Die Schweiz Afrikas“ eingebracht.

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