Was haben wir als Atheisten von einem Besuch in der heiligen Stadt Jerusalem zu erwarten? Diese Frage stellten wir, die wir nur einen geringen bis gar keinen Bezug zu Religion haben, uns natürlich.
Man kennt Jerusalem von Bildern aus den Nachrichten. Wenn in Israel politische Entscheidungen getroffen werden, dann geschieht das in der Hauptstadt – Jerusalem. Den Tempelberg mit der gold-glänzenden Kuppel des Felsendoms und dem schlichten Antlitz der El-Aksa-Moschee sowie die Grabeskirche hat man schon hunderte Male gesehen, doch scheint alles unendlich weit entfernt und unwirklich.
Auf dem Weg zur Altstadt kommen wir durch einen kleinen, gepflegten Park und finden ein Restaurant mit idyllischem Lustgärtchen davor. In der Mitte steht ein alter Olivenbaum, um den herum vier Tische mit ein paar Stühlen aufgestellt sind. Singvögel zwitschern, sonst ist es ganz still. Ein Kellner kommt zu uns an den Tisch. Er ist die Gelassenheit in Person. Wir erklären ihm, dass wir gerne einen Kaffee mit viel Milch hätten.
„Den machen wir Ihnen sehr gerne. Wünschen Sie ihn mit aufgeschäumter Milch?“
„Ja, wunderbar!“, und fünf Minuten später steht ein perfekter Latte Macchiato vor uns auf dem Tisch.
Wir kommen mit dem Kellner ins Gespräch und erzählen ihm, dass wir auf dem Landweg nach Israel gekommen sind und eine Weltreise machen. Er ist ganz begeistert und verschwindet nach kurzer Unterhaltung in der Küche. Zurück kommt er mit zwei Tellern Brot und Butter als Geschenk des Hauses für die Reisenden. Sind wir hier schon im Paradies angelangt?
Bestens eingestimmt und gesättigt verlassen wir das kleine Paradies und begeben uns in die Altstadt.
Kein übertriebenes Sicherheitsaufgebot, keine Leibesvisitationen oder Ähnliches. Wir sind angenehm überrascht und gehen hinüber zum Davidturm. Von oben hat man einen der besten Ausblicke auf die Altstadt und den Ölberg. Und was soll man sagen, wir sind von dem Anblick der Altstadt und all den uns vertrauten Gebäuden ergriffen. Da liegt sie nun vor uns, die Stadt, die wir schon so oft gesehen haben und die doch immer so unerreichbar fern schien. Da ist er, der Tempelberg mit dem Felsendom und der El-Aksa-Moschee, zwei der wichtigsten Heiligtümer des Islam, da ist sie, die Grabeskirche, gebaut um die Stätte, an der Jesus nach seiner Kreuzigung begraben worden sein soll. Die Gebeine hat man natürlich weder dort noch sonst irgendwo gefunden, schließlich ist Jesus dem Glauben nach auferstanden.
Doch die Stadt offenbart auch sichtbar ihre Schattenseiten. In der Ferne deutlich zu sehen ist die hohe Mauer, die Israelis gebaut haben, um die dortigen Wohngebiete vor Beschuss aus den palästinensischen Gebieten hinter der Mauer zu schützen. Aber nicht überall gibt es solche Übergriffe, nicht überall sind solche drastischen Maßnahmen erforderlich. In weiten Teilen des Landes leben Israelis und Palästinenser trotz des Konflikts friedlich miteinander.
Anblicke erfreulicherer Natur finden wir im Hof des Davidturms vor, in dem die Kunstwerke eines Glasbläsers ausgestellt sind. Neue Kunst geht hier eine harmonische Symbiose mit alten Steinen ein. Ein Zeichen für die Toleranz und Aufgeschlossenheit der Stadt, nicht nur gegenüber der Tradition, sondern auch der Moderne.
Die Grabeskirche, deren zwei anthrazitfarbenen Kuppeln kaum weniger an, wenngleich unterschiedlich große, weibliche Brüste erinnern, als die Frauenkirche in München, ist unser nächstes Ziel. Es ist noch früh, und der Andrang der Gläubigen hält sich erstaunlich in Grenzen. In der Mitte der kleinen Eingangshalle ist die vermeintliche Grabplatte von Jesus ausgestellt. Dort liegt sie einfach so, kein Panzerglas, keine Alarmanlagen. Allerdings wäre sie wohl auch nur schwer zu tragen, denn sie sieht ziemlich massiv aus. Sie ist aus einem beige-rötlich marmorierten Stein, die Oberfläche grob bearbeitet und rau. Die Gläubigen knien vor ihr nieder, berühren und küssen sie. Und auch wir lassen es uns nicht nehmen, wenigstens einmal unsere Hand auf die Platte gelegt zu haben.
Ansonsten passiert allerdings nichts, keine Erleuchtung, keine Erscheinung, kein Wunder. Oder vielleicht doch? Als wir später am Abend die Fotos des Tages sichten, fällt uns auf einem der Fotos ein dunkelhäutiger Mann mit weißem Gewand im Hintergrund auf, der im Sonnenlicht erstrahlt und erhaben den Arm ausstreckt.
Von dieser Erscheinung jedoch noch nichts ahnend schreiten wir beinahe enttäuscht weiter in die große und verwinkelte, ansonsten aber eher schlichte Kirche hinein. Den Besucher erwarten keine architektonischen, keine pompösen Übertreibungen, keine unermesslichen Kunstschätze. Aber gerade ihre Schlichtheit verleiht der Kirche ihre Ehrwürdigkeit. Sehr sympathisch.
Und dann stehen wir plötzlich vor einem großen Schrein, unter einer gelblich schimmernden Kuppel, die den hohen Raum in ein erhabenes Licht taucht. Eine Schlange Gläubiger hat sich neben dem Schrein versammelt und windet sich hin zu einem kleinen Durchgang, der in den Schrein hineinführt. Hier soll es also gewesen sein, hier soll der Ort sein, an dem Jesus nach seiner Kreuzigung und bis zu seiner Auferstehung seine nur kurz währende Ruhe gefunden haben soll. Nur jeweils fünf Personen werden in die kleine Kammer eingelassen, und obwohl die Besichtigenden eine halbe Stunde warten müssen, drängelt niemand. Alle warten geduldig, bis sie an der Reihe sind. Auch wir reihen auch wir uns in die Schlange der Wartenden ein und besichtigen den heiligen Ort. Gebückt zwängen wir uns durch den niedrigen Durchgang in die winzige Kammer, in der ein kleiner Altar aufgebaut ist. Neben dem Altar hängt ein Marienbild, und von der Decke baumeln lauter kleine Öllämpchen. Christiane zündet für ihren frühzeitig verstorbenen und in manchem Augenblick schmerzlich vermissten Vater eine Kerze an.
Dann verlassen wir die Grabeskirche wieder, und gehen ein Stück auf dem Kreuzweg, die Via Dolorosa entlang, die quer durch die Altstadt in Richtung des Ölbergs führt.
Der halbe Ölberg ist übersät mit jüdischen Gräbern. Es sind schlichte, quaderförmige Sarkophage mit Inschriften auf den Grabplatten, teils von der Verwitterung gezeichnet, teils nur geringen Alters, und aus allen Blickwinkeln bietet das Meer der Sarkophage immer wieder beeindruckende Bilder. Von der Spitze des Ölbergs genießen wir den, in den Nachrichten meist gesehenen, Ausblick auf die Altstadt, mit dem Tempelberg und darauf dem Felsendom und der El-Aksa-Moschee im Vordergrund.
Vom Ölberg gehen wir wieder zurück zur Altstadt, ein Stück der Stadtmauer entlang und um den Tempelberg herum. Der Weg führt uns am Fuße der El-Aksa-Moschee vorbei. Sie wurde in die Stadtmauer hineingebaut und ist im Vergleich zu anderen Moscheen schmucklos und unscheinbar, ähnlich der Grabeskirche. Wie es in ihrem Inneren aussieht, das erfahren wir leider nicht, denn seit einigen Jahren sind Moschee und Felsendom für Nichtmuslime nicht mehr zugänglich.
Am Rande des Tempelbergs, unmittelbar unterhalb der El-Aksa-Moschee, befindet sich auch die Klagemauer, an die Juden ihr Leid gen Himmel wenden und kleine Zettelchen mit ihren Wünschen in die Ritzen stecken. Hier treffen wir zum ersten Mal auf eine nennenswerte Anzahl orthodoxer Juden, dieser doch etwas weltfremd erscheinenden Menschen mit ihrer schwarzen Kleidung, den großen Hüten und Pelzmützen und den vor den Ohren herabhängenden Locken, die das Bild der Juden in unseren Köpfen so sehr prägen.
Inzwischen ist es dämmrig geworden, und wir machen uns langsam auf den Weg zurück zum Sprinter. An die Klagemauer grenzt unmittelbar das muslimische Viertel. Lediglich ein Tunnel trennt beides voneinander, und an seinem Ende angelangt könnte man meinen, man befinde sich plötzlich in einer anderen Stadt. Während die jüdischen und christlichen Viertel sehr gepflegt und ruhig sind, bewegt man sich hier schlagartig auf klebrigem, verdrecktem Boden, überall liegt Müll herum, Menschenmassen schieben sich durch die engen Gassen, und kreischende Kinder spielen aggressive Spiele, schlagen mit Holzstöcken aufeinander ein. Hier vollzieht sich für den Besucher ein wahrer Kulturschock von Stadtviertel zu Stadtviertel, hier koexistieren auf engstem Raum vier Kulturen, die jüdische, die christliche, die islamische und die armenische. Vier Stadtviertel und viele Religionen beziehungsweise religiöse Richtungen.
Uns ist der Trubel ein wenig zuviel, und da wir zu dieser Zeit nach Einbruch der Dämmerung beinahe die einzigen Touristen im muslimischen Viertel sind, sehen wir zu, dass wir schleunigst wieder herauskommen. Wir verlassen Jerusalem und ziehen uns in ein kleines Wäldchen etwa zwanzig Kilometer vor der Stadt zurück. Den Wald verwenden wir am nächsten Tag als Ausgangspunkt zu einem weiteren Streifzug durch Jerusalem, und danach werden wir hier einfach ein paar Tage abspannen und unser Leben mit Füchsen und Iltissen teilen.