Nach stundenlangem Straßenkampf unter annähernd anarchistischen Bedingungen erreichen wir einen von zwei noch übrig gebliebenen Campingplätzen in Istanbul. Wenn man auf den rechtsfreien Raum auf den Straßen von Istanbul vorbereitet ist, kommt man mit dem Verkehr gut klar, aber nicht, wenn man neu in der Stadt ist und noch den Verkehrsregeln Beachtung schenkt. Verkehrsregeln gelten nicht in türkischen Großstädten! Hier gilt das Recht des Entschlosseneren. Soll heißen, wenn man beispielsweise die Spur wechseln will, zieht man einfach rüber, egal ob einer kommt oder nicht.
Wir hatten den Campingplatz schon im Vorbeifahren gesehen. Allerdings gab es keine Möglichkeit mehr, von der beidseitig vierspurigen Hauptverkehrsader, die in das Herz Istanbuls führt, abzufahren. Stattliche anderthalb Stunden und viele Nerven kostete es uns, um wieder an die richtige Abfahrt zurückzukommen.
Wir passieren die Einfahrt des Campingplatzes und landen auf einem kleinen, gewöhnlichen Parkplatz. Keine Spur von Campingplatz weit und breit, aber es stehen vier Wohnmobile dort, umringt von parkenden Autos. Ich steige aus und laufe hinüber zu einem alten Mercedes-Bus mit der Aufschrift „Salzburg-India-Tour 2007“. Ich erkundige mich, wo es hier zum Campingplatz geht und erhalte von einer freundlichen Österreicherin die Auskunft, dass wir uns mitten auf selbigem befinden.
Nun gut, dann ist das hier wohl tatsächlich der Campingplatz. Wir stellen uns neben die Salzburger an eine Mauer. Auf der anderen Seite der Mauer ist eine Privatuniversität. Ständig fahren Autos über den Parkplatz zur selbigen und anders herum wieder heraus. Auf der gegenüberliegenden Seite ist eine Fußballhalle mit drei Plätzen, auf denen leidenschaftlich gekickt wird. Und ein Stück weiter davor ist eine Kartbahn, auf der sich die Hobbypiloten heiße Rennen liefern. Als Toiletten und Duschen sind diejenigen mitzubenutzen, die zur Fußballhalle beziehungsweise Kartbahn gehören. Und wie man sich vorstellen kann, sind sie reichlich heruntergekommen und verdreckt. Na prima, das kann ja heiter werden.
Aber zumindest ist der rund um die Uhr bewachte Campingplatz bei fünfzehn Euro pro Tag für zwei Personen mit Fahrzeug verhältnismäßig günstig, und der andere Campingplatz soll noch schlimmer sein. Außerdem ist es nur ein kurzer Fußweg bis zur Metro. Und wir freunden uns gleich am ersten Abend mit den beiden Salzburgern Eva und Harry an, die seit vielen Jahren über Winter nach Indien fahren, mit Kleidern für die Kinder eines Waisenhauses im Gepäck. Sie lieben das Land über alles und wecken auch in uns die Sehnsucht, Indien endlich kennen zu lernen.
Da wir ohnehin unentschlossen sind, ob wir Afrika oder Asien zuerst bereisen sollen, erkundigen wir uns am folgenden Tag nach den erforderlichen Visa, um nach Indien zu gelangen. Wegen des Ramadan werden für die nächsten gut zwei Wochen jedoch nicht alle Visa zu bekommen sein.
Wir sind hin und her gerissen, entscheiden uns aber, Afrika dann doch vorzuziehen. Das vorerst notwendige Visum für Syrien erhalten wir innerhalb weniger Stunden, nachdem wir uns zuvor ein Empfehlungsschreiben des Deutschen Konsulats in Istanbul besorgt haben. Das hätte man uns beinahe nicht ausgestellt, da man offiziell keine Empfehlungsschreiben mehr herausgibt. Glücklicherweise hatte ich am Tag zuvor jedoch beim Sekretariat des Vizekonsuls angerufen und eine mündliche Zusage erhalten.
Mit dem syrischen Visum in der Tasche kommen wir schon einmal bis Ägypten, denn das jordanische Visum gibt es problemlos an der Grenze. In Kairo sollen dann alle weiteren notwendigen Visa erhältlich sein, um bis nach Südafrika zu kommen. Außer den sudanesischen und äthiopischen Visa bekommt man alle übrigen an der jeweiligen Landesgrenze.
Kommen wir zum Eigentlichen: Istanbul. Die Stadt liegt zu beiden Seiten des Bosporus auf der Landzunge zwischen Schwarzem Meer und Marmarameer, das seinerseits eine Art Nebenbecken des Mittelmeers ist. Der Bosporus ist die natürliche Verbindung der beiden Meere und bildet die Grenze zwischen Europa und Asien. Die Kulturen beider Kontinente mischen sich hier wie an keinem anderen Ort. Wie könnte man die Stadt am besten mit wenigen Attributen beschreiben? Quirlig, multikulturell, traditionell und modern – sehenswert! Die Lebendigkeit dieser Stadt und die einzigartige Mischung fernöstlicher und westlicher Kultur lassen sie jeden Besucher unweigerlich in ihren Bann ziehen. Von Istanbuls Pflichtprogramm sehen wir uns die Blaue Moschee, die Hagia Sophia, den große Basar und den Gewürzbasar an. Ansonsten bewegen wir uns kreuz und quer durch die ganze Stadt.
Die Blaue Moschee verdankt ihren Namen den blauen Mosaiken, die ihr Inneres zieren. Auch bei ihrem Äußeren gibt es eine Besonderheit: Die Blaue Moschee hat sechs Türme beziehungsweise Minarette. Im Allgemeinen haben Moscheen nur ein Minarett und nur selten zwei oder vier. Allerdings bekommt man die sechs Minarette der Blauen Moschee vom Erdboden aus nicht alle ins Bild. Deshalb braucht ihr auf den folgenden Bildern nicht nachzuzählen. Und nach den blauen Mosaiken müsst Ihr auch nicht suchen, denn sie liegen sehr schattig, und man kann sie nur mit Blitz vernünftig fotografieren. Einige machen das, aber aus Respekt vor den Betenden verzichten wir darauf. Wir finden die Fenster und Kuppeln der Blauen Moschee ohnehin beeindruckender.
Die Hagia Sophia besichtigen wir nur von außen. Sie steht in unmittelbarer Nachbarschaft zur Blauen Moschee und hebt sich durch ihre rötliche Farbgebung von anderen Moscheen ab. Sie ist von einem kleinen Park umgeben, den die Menschen als Ruheoase nutzen.
Istanbuls Großer Basar ist der größte überdachte Basar der Welt. Der Basar gleicht einer Stadt in der Stadt, die alles für den täglichen Bedarf bietet. Leicht kann man sich hier in den unzähligen, verwinkelten Gängen verlaufen. Da wir in unserem Sprinter ohnehin keinen Platz haben, beschränken wir uns auf ein paar Tassen türkischen Cais, dass heißt herb-aromatischen schwarzen Tees, der das türkische Nationalgetränk ist (Nein, es ist nicht Ayran!), und auf die Nutzung eines offenen Funknetzes zum Lesen unserer E-Mails. Ja, auch die orientalischen Märkte gehen mit der Zeit.
Der Gewürzbasar bietet, man kann es raten, Gewürze verschiedenster Art und in buntesten Farben. Eine noch größere Versuchung sind allerdings die Berge süßer Leckereien wie türkischer Nougat in allen möglichen Variationen. Wir können nicht widerstehen und decken uns mit einem reichlichen Vorrat davon ein.
Doch die Stadt hat noch viel mehr zu bieten als die ausgewiesenen Sehenswürdigkeiten. Die Angler auf der Galatabrücke und das Handwerkerviertel beispielsweise.
Angeln ist in der Türkei so eine Art Volkssport. Hunderte von Anglern stehen auf und in der Nähe der Galatabrücke, die das Goldene Horn überspannt.
Besorgungen in Istanbul funktionieren anders, als man es bei uns kennt. Zunächst einmal plant man in Istanbul maximal zwei Dinge pro Tag ein, die man zu erledigen hat, weil die Stadt so riesig ist und es trotz Metro auch schon mal drei Stunden dauern kann, bis man vom einen Ende der Stadt in irgendeinen Winkel des anderen gelangt ist. Außerdem bekommt man in Istanbul zwar grundsätzlich alles, aber außer Lebensmitteln und anderen Dingen des täglichen Bedarfs sind viele Arten von Geschäften stadtviertelweise konzentriert. So zum Beispiel muss man in das Handwerkerviertel gehen, wenn man irgendwelches Werkzeug braucht. Dort aber gibt es dann alles im Überfluss.
Apotheken gibt es natürlich in der ganzen Stadt. Viele von ihnen entsprechen westlichem Standard und bieten die ganze Bandbreite von Medikamenten, aber zu beinahe paradiesisch günstigen Preisen. Hier kann der Reisende richtig Geld sparen. Man muss lediglich die Wirkstoffe der gesuchten Medikamente kennen, denn die vertrauten Medikamentennamen und -hersteller sucht man oft vergeblich. Außerdem sind die Beipackzettel meist nur in türkischer Sprache verfasst, weshalb man sich vom Apotheker genau beraten lassen sollte, wenn man die Dosierungen und Nebenwirkungen nicht kennt. Wir jedenfalls komplettieren unsere Reiseapotheke mit allem, was wir nicht für so vordringlich hielten, dass wir es schon in Deutschland hätten besorgen müssen.
Kommen wir zu guter letzt noch zu den Schuhputzern. Auch sie verleihen dem Stadtbild ihre Prägung, und ich gehe einem Schlitzohr unter ihnen auf den Leim. Als Vielreisender lernt man ja nach und nach alle möglichen Tricks der Touriabzocke kennen, indem man auf sie hereinfällt. Doch man ist nicht davor gefeit, dass es einen ab und zu doch wieder erwischt.
Vor allem, wenn man gerade auf das Verschlingen eines Döners konzentriert ist. Wie ich so gerade in einen ihrer Artgenossen hinein beiße, kommt ein Schuhputzer vorbei und verliert vor unseren Füßen seine Bürste. Dressiert und höflich wie man ist, ruft man ihm hinterher und macht ihn darauf aufmerksam, dass er sein Handwerkszeug verloren hat, hebt es ihm sogar auf und reicht es ihm noch hin. Ein überglücklicher Schuhputzer strahlt übers ganze Gesicht und bedankt sich ausschweifend dafür, dass es noch so höfliche Menschen gibt und bietet an, jenem dafür die Schuhe zu putzen. Meine sehen ohnehin nicht mehr ganz so aus wie früher, als sie noch von Muttern geputzt wurden. Also lasse ich ihn seiner Berufung nachgehen, als mir dann endlich die Schuppen von den Augen fallen und mir in den Kopf schießt, dass er die Bürste natürlich nicht versehentlich verloren hat.
Aber er hat das Spiel gewonnen, und ich will ihm eine türkische Lira für seinen zweiminütigen Arbeitseinsatz geben. In Istanbul bekommt man für eine türkische Lira immerhin einen Döner. Der Schuhputzer ist sich prinzipiell auch nicht zu schade, Geld anzunehmen. Allerdings will er mir erzählen, dass eine türkische Lira „very very klein“ ist und nur soviel wie 5 Euro-Cent. (Tatsächlich sind es über 60 Cent.) Nach langwierigem Hin- und Herdiskutieren frage ich ihn, was denn seine Preisvorstellung sei. Fünf Euro hielte er für angemessen. Da platzt mir der Kragen, ich drücke ihm die Lira in die Hand und mache ihm klar, dass er sich so schnell wie möglich aus dem Staub machen soll, bevor ich es mir anders überlege.
Ansonsten bleiben wir aber ziemlich unbehelligt in der Stadt. Wir werden nur gelegentlich von Verkäufern auf die übliche Art angesprochen („How are you?“, „Where are you from?“, „First time in Istanbul?“), die keinem anderen Zweck dient, als einen in ein Gespräch zu verwickeln, das sich dann sehr schnell zum Verkaufsgespräch entwickelt. Wenn man hierzulande klar sagt, dass man nicht interessiert ist, wird man in Ruhe gelassen und nicht weiter belästigt, wie das in anderen Ländern leider manchmal der Fall ist. Nein, vielmehr fühlen wir uns richtig wohl in der Stadt und unter ihren Bewohnern.